19.08.2022

Hausgeschichten

Schwerins erstes Hochhaus

Gut sichtbar auf einer kleinen Anhöhe: Schwerins erstes Hochhaus steht in der Weststadt.
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Gebäude in der Werner-Seelenbinder-Straße versteckte einen Schornstein – und bietet gute Aussicht

Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade?
Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: in Schwerins erstem Hochhaus, das Anfang der 1960er-Jahre als innovatives Gebäude entstand.

Am Anfang war der Schornstein. 30 Meter hoch und mit einem Hügel unter dem Fundament hätte der Schlot des Heizwerks der Sport- und Kongresshalle leicht zum Wahrzeichen der neu entstehenden Weststadt werden können. Schön war das aus städteplanerischer Sicht nicht – vor allem deshalb nicht, weil mit dem ersten Neubaugebiet Schwerins auch ein Statement für den sozialistischen Aufbau gesetzt werden sollte. Gleichzeitig war der Bedarf an Wohnraum riesengroß – was lag da näher, als etwas Schönes und etwas Nützliches zu schaffen?
So kam Schwerin zu seinem ersten Hochhaus. Wer heute die Wittenburger Straße emporstiefelt, hat es immer im Blick. Und apropos Blick: Bewohner des Hauses genießen gerade aus den oberen Etagen eine wunderbare Aussicht auf die Stadt. Bis zum Schornstein-Haus war es allerdings kein einfacher Weg. Er begann mit einem Architekturwettbewerb, dessen preisgekürte Entwürfe in einem Schaufenster in der Innenstadt zur öffentlichen Begutachtung ausgestellt wurden. Allerdings war eine allzu freie Planung gar nicht möglich, da ein Punkthochhaus gefragt war und die Anzahl der Geschosse aus Kostengründen begrenzt werden sollte. So beschrieb es Architekt Heinrich Handorf, der das Gebäude um den Schornstein herum entwickelte. In einem Beitrag für die Publikation „Schwerin – Meine Stadt“ erinnerte er sich an die größte
Herausforderung, die das ambitionierte Projekt barg: schwefelhaltige Rauchgase in der Nähe von Balkonen und offenen Fenstern. In einem Gutachten hatte die zuständige Dienststelle der Lufthygiene deshalb gefordert, den Schornstein zehn Meter weit über das Dach zu führen – die mit dem Hochhaus beabsichtigte Gestaltung wäre damit ad absurdum geführt worden. Inspiration kam aus München: Hier hatten die Planer beim Bau eines neuen Heizkraftwerks das Problem der Rauchgase gelöst, indem sie diese über ein zweites Dach, eine so genannte Strömungsplatte, abführten. Möglich machte es der Windstrom zwischen den beiden Dächern. Der Schornstein musste bei dieser Variante nicht nach oben wachsen, sondern konnte kurz über der Strömungsplatte enden. Den von der Hygiene-Aufsicht geforderten Funktionsnachweis erbrachten die
Architekten, indem sie mit maßstabgerechten Modellen im Strömungskanal der Technischen Universität Dresden das Verhalten bei verschiedenen Windrichtungen simulierten und sich so grünes Licht von der Hygiene- Inspektion erkämpften. Jetzt konnte das Hochhaus entstehen: mit 48 Ein-Raum- und 10 Anderthalb- Raum-Wohnungen, die über Kochnische und Dusche verfügten, und 18 Anderthalb-Raum- Wohnungen und 2 Zweieinhalb- Raum-Wohnungen mit Küche und  Bad. Die Wohnungen waren nicht groß, mit eingebauten Küchenschränken, Aufzug, Müllschlucker und Wechselsprechanlage aber komfortabel ausgestattet. Nicht verwirklicht wurde eine Gaststätte mit Terrasse unterhalb des Hochhauses, allerdings kam ja später das „Panorama“ dazu.
Und nicht nur das Hochhaus lenkte den Blick nach oben: An der Südfassade entstand eine riesige Kunstschmiedearbeit des Künstlerkollektivs „Bannewitz“, das einen Mann und eine Frau nach einem Sputnik blickend zeigt. Dieses Beispiel baubezogener Kunst schmückt nach wie vor das denkmalgeschützte Haus und erinnert an dessen Entstehungszeit zwischen 1961 und 1963, als die Kosmosbegeisterung nach dem ersten Weltraumflug Gagarins 1961 ihren Höhepunkt erreichte. Zwischen 2012 und 2013 wurde das Hochhaus von der Wohnungsgesellschaft Schwerin umfassend saniert und die Zahl der Wohnungen dabei auf 68 reduziert. Die originalgetreue Farbgestaltung wurde nach Vorgaben des Denkmalschutzes wiederhergestellt – und im Vergleich zu den 1960er-Jahren war es auch deutlich einfacher, farbigen Putz zu bekommen. Ausgedient haben auch die Asbestplatten der Balkone – sie wurden durch Wellblech ersetzt.
Katja Haescher