18.09.2020

Hausgeschichten

Schöne Villa im Franzosenweg

Als der Architekt Heinrich Becker aus China zurückkam, baute er sich in Schwerin ein Haus am See
Das Haus heute – ein liebevoll saniertes Schmuckstück
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Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: das Haus Franzosenweg 6.

Das ist mal ein echter Superlativ für Schwerin und dazu noch einer, den unserer Stadt niemand mehr streitig machen kann: Ein Schweriner war der erste Deutsche, der in China als Architekt gearbeitet hat. Es geht um Heinrich Becker.

In Fernost hat der Mann wahrscheinlich sogar nachhaltiger gewirkt als in seiner Heimatstadt. Mit 30 Jahren begab er sich 1898 auf die lange Reise in das Reich der Mitte und blieb dort bis 1911. In dieser Zeit entwarf er Gebäude in Shanghai, Peking, Wuhan, Jinan und Tianjin. Der von ihm bevorzugte Baustil lehnte sich dem europäischen Historismus an, von fernöstlicher Architektur keine Spur.

Sein bekanntester Bau ist wohl der „Club Concordia“ für deutsche Kaufleute in Shanghai. Das Haus war später sogar auf dem 5-Yuan-Schein abgebildet. Zu seinen Werken in China zählten außerdem mehrere Bankgebäude, das Postamt für die Kaiserliche Post und diverse Wohnhäuser.

Vor seiner Karriere als Architekt lernte Becker in Schwerin einen Bauberuf, qualifizierte sich weiter an der Städtischen Baugewerkschule zu Neustadt in Mecklenburg (Technikum Neustadt-Glewe) und studierte ab 1890 wahrscheinlich an der Technischen Hochschule München Architektur.

Es gibt keine Belege darüber, dass Heinrich Louis Friedrich Becker – so sein vollständiger Name – zwischen Studium und China-Aufenthalt schon in Schwerin als Architekt aktiv war. Fakt ist aber, dass er nach seiner Rückkehr ab 1911 die Eigenheime in der Wismarschen Straße 241 bis 255 entwarf und einige Umbauten plante, von denen allerdings ein Teil wegen Geldmangel gar nicht ausgeführt wurde. Sein herausragendstes Objekt in unserer Stadt aber ist die Villa Franzosenweg 6. Diese baute Becker für sich und seine Familie. Und er hatte anfangs ein wenig Ärger damit.

Erst im Juni 1913 wurde er als Besitzer des Grundstücks mit der Katasternummer 3128 in das Grundbuch der Stadt eingetragen, bereits gut ein Jahr zuvor hatte der Bauherr und Architekt Heinrich Becker der Baupolizeibehörde des Großherzoglichen Amts Schwerin seine Pläne vorgelegt. Im November 1912 bekam das „Project zu einem Wohnhaus am Franzosenweg“ von der Behörde den „Geprüft“-Stempel. Im März 1913 war der Rohbau fertig, und im Frühsommer 1913 waren auch die Innenarbeiten erledigt, so dass die künftigen Bewohner einziehen konnten. Nur fand die von Becker bei der Behörde dringlichst erbetene Bauabnahme nicht statt. Das Problem: Wegen Umstrukturierungen und Eingemeindung wechselte in dieser Zeit die Zuständigkeit vom Großherzog auf die Stadtverwaltung. Weil einfach kein Beamter erschien, um seine Genehmigung zu geben, ging Becker wohl davon aus, es sei alles im Lot – und ab Juli 1913 bewohnten die Beckers das Haus.

Jetzt wurde man in den Amtsstuben plötzlich doch wach, und es erging eine Strafverfügung an den Bauherrn. Es könne doch wohl nicht angehen, dass das Haus ohne Schluss­abnahme schon bewohnt werde – zehn Mark oder ein Kurzaufenthalt im Knast! Ob Becker tatsächlich zahlte beziehungsweise hinter Gitter ging, ist nicht bekannt. Jedenfalls beschwerte er sich über die Verfügung, weil er ja davon ausging, im Recht zu sein, und einen großherzoglichen Stempel konnte er auch vorzeigen. Einen Monat danach war alles geklärt, und die Villa wurde legal bewohnt.

Nach dem Tod des Architekten am 31. Oktober 1922 (er wurde auf dem alten Friedhof beerdigt), erbten seine Frau Helene sowie sein Sohn (der 1942 im Krieg starb) und seine Tochter die Immobilie, später dann ging die Villa auf Beckers Enkel über. Zumindest Teile des Hauses waren zeitweise auch vermietet. So erhöhte Helene Becker einer Mieterin namens Hartmann im Jahr 1940 die Miete um 25 Prozent. Sie begründete dies mit steigenden Kosten.

Im Sommer 1945 beschlagnahmte die Sowjetarmee die Villa. Ab Anfang der 1950er Jahre wurde sie von der Stadt verwaltet. Nach der Wende bekamen Heinrich Beckers Enkel ihr Eigentum zurück. Anfang oder Mitte der 1950er Jahre wurde dort ein Kinderheim eingerichtet, das später gleichzeitig als sogenanntes Durchgangsheim für schwer erziehbare Jugendliche diente. Beides blieb es bis 1987. Anschließend zog ein Kinderhort ein, darauffolgend eine Kita, die bis Ende der 1990er Jahre existierte.

Die jetzigen Besitzer erwarben die damals leerstehende Villa 1998. Sie bauten das Gebäude zu ihrem Wohnhaus um und richteten in einer Etage eine Fe­rienwohnung ein. Im Zuge der Sanierung stießen sie unter anderem auf zellenartige Räume mit Gittertüren und vergitterten Fenstern. Den Turmaufbau, der etwa 1960 abgenommen wurde, ließen sie wiederherstellen. S. Krieg