12.11.2021

Hausgeschichten

„Öffentlicher Begegnungsraum“

Das neue „Forum Diakonie“ mit dem sanierten Wichernsaal in der Apothekerstraße 48
Das Haupthaus erhielt im Zuge der Sanierung einen Fahrstuhl und der Wichernsaal (rechts) ein gläsernes Vestibül. Auch der Hof wurde neugestaltet.
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Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: Apotheker­straße 48.

„Wir haben den Wichernsaal aus dem Dornröschenschlaf geweckt“, sagt der Architekt Wolfram Keßler. „In das Denkmal ist wieder Leben eingezogen.“ Der sanierte Saal bildet das Prunkstück des Gebäudekomplexes Apothekerstraße 48, der dem Diakonischen Werk Mecklenburg-Vorpommern gehört.
Die Sanierungsarbeiten begannen im Oktober 2018, nachdem der Wichern­saal ab 1993 leer stand. Genau einhundert Jahre zuvor wurde er zusammen mit dem Hauptgebäude, das heute Mariannenhaus genannt wird, errichtet. Die Einweihungsfeier fand am 15. Oktober 1893 statt.

Der Bau diente dem Stephanusstift, der nebenan in der Elisabeth­straße 7 (heute Körnerstraße 7) seinen Sitz hatte, als Vereinshaus vor allem für kirchliche Veranstaltungen und als „Herberge zur Heimat“, wo unter anderem Obdachlose und wandernde Handwerksgesellen Unterkunft fanden. Auf diese Weise wurde das Haus mit dem Saal-Anbau mehrere Jahrzehnte genutzt. Der Jünglingsverein, ein Vorläufer des Christlichen Vereins junger Männer (CVJM), betrieb die Einrichtung.  

Der damalige Vereinssaal des Stephanusstiftes und heutige Wichernsaal erfuhr 1927 eine Modernisierung, unter anderem erhielt er eine Zentralheizung und eine neue Elektro­anlage. Zwei Jahre später wurde der Saal erneut renoviert und bekam einen Anstrich in Goldocker, der nun bei der Sanierung wieder aufgegriffen wurde.

Nach dem zweiten Weltkrieg war in der Apothekerstraße 48 kurzzeitig  ein Umsiedlerlager eingerichtet. Aber schon Ende der 1940er konnte die Kirche ihre Räume wieder selbst nutzen. Zu DDR-Zeiten fand hier eine ganze Reihe Veranstaltungen statt – von Konzerten über Tagungen der Landessynode und Treffen von Umweltschützern bis hin zu privaten Feiern. Am 28. November 1989 gründete sich im Wichernsaal der Ortsverband der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP).

Danach passierte nicht mehr viel in dem einsturzgefährdeten Saal, der nach der Wende auf das Dia­konische Werk überging. Erste Überlegungen, den Saal zu restaurieren und wieder mit Leben zu erfüllen, gab es bereits Ende 1993. Konkret geplant wurde jedoch erst 2013.
Der Vorstand des Diakonischen Werkes um den damaligen Landespastor Martin Scriba warb EU-Fördermittel (EFRE) in Höhe von 2,1 Millionen Euro ein, ohne die das Vorhaben nicht bezahlbar gewesen wäre, und beauftragte das Schweriner Büro MKK Architekten um Wolfram Keßler.

Im Zuge der Sanierung des denkmalgeschützten Wi­chern­saals wurde auf dem Gelände in der Apothekerstraße 48 / Körnerstraße 7 für insgesamt rund drei Millionen Euro das „Forum Diakonie“ geschaffen. Dazu zählen auch der neu gestaltete Innenhof und ein Fahrstuhl. Alle Einrichtungen sind barrierearm über ein Orientierungs­system erreichbar.

Gute zwei Jahre hat es gedauert, bis der Saal der Diakonie übergeben werden konnte. Architekt Wolfram Keßler erinnert sich an den Zustand vor der Sanierung und an die schwierigen Bedingungen während der Arbeiten. So habe das Holztragewerk seinen Zweck nicht mehr erfüllt und musste durch eine Stahlrahmenkonstruktion unterstützt werden. In der engen Straße konnte kein Kran eingesetzt werden, auch große Lieferfahrzeuge kamen nicht durch. Die Handwerker beförderten die 400 Kilogramm schweren Stahlträger mit Muskelkraft auf Gummirollen zum Einsatzort. Zudem sei es nicht möglich gewesen, Bauschuttcontainer aufzustellen. Und die Neugründung erfolgte auf Sandboden.

Der Saal umfasst inklusive Nebenräumen eine Grundfläche von mehr als 500 Quadratmetern. Platz ist für 200 Gäste auf dem Parkett und nochmal 60 auf der Empore. Offi­ziell vorgestellt wurde das „Forum Dia­konie“ mit dem Wichernsaal am 27. Oktober. Eingeladen dazu waren auch Bewohner der anliegenden Häuser, die zwei Jahre Baulärm zu ertragen hatten.

Henrike Regenstein, Vorstand des Diakonischen Werks, sagt: „Unser Forum Diakonie soll ein öffentlicher Begegnungsraum für alle Menschen sein.“ In diesem Sinne wird der Saal nicht nur von der Dia­konie genutzt, sondern kann auch von externen Veranstaltern zum Beispiel für Vorträge, Lesungen, Konzerte angemietet werden. S. Krieg