Hausgeschichten
Musik in allen Räumen
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal nicht hinter die eines Hauses, sondern hinter eine, die das komplexe Innenleben eines Musikinstruments verbirgt. Gleichzeitig verschmilzt die Orgel der Schweriner Paulskirche mit dem Kirchenraum in perfekter Harmonie.
Wenn auch die Orgel eine Fassade hat, dann ist diese gotisch: Pfeifen in Spitzbogen-Fenstern, Türmchen mit Fialen, hölzernes Maßwerk. Orgelbaumeister Friedrich Friese III, der Dritte in der Schweriner Dynastie, hat bei dem Instrument in der Paulskirche Klangsprache und Raumsprache aufs Schönste vereint. „Eine Orgel spricht mit dem Raum, in dem sie steht“, sagt Kantor Christian Domke. Und weil das Instrument 1869 zusammen mit der neogotischen Paulskirche wuchs, nahm es auch deren Formensprache auf.
Die Fassade der Orgel hat dabei vor allem eine Funktion: gut auszusehen. „Faccia“ bedeutet auf Italienisch Gesicht, das Gesicht der Orgel ist das, was herausgeputzt wird. Und so, wie eine Fassade bei einem Haus das Innere vor Blicken verbirgt, tut es der Prospekt – also die äußere Erscheinung der Orgel. Schließt Christian Domke die Tür an der Seite des Instruments auf, zeigen sich die Räume. Da gibt es hölzerne Treppen zu den einzelnen Etagen. Den – man könnte sagen – Hauswirtschaftsraum, in dem der Schöpfbalg läuft, das einzig Elektrische an dem ansonsten komplett mechanischen Instrument. Die Vorratsräume, aus denen die Orgel Luft holt. Leitungen, wie die dünnen hölzernen Abstrakten, die den Tastendruck zu den Ventilen übertragen. Und natürlich die Aufenthaltsräume voller hölzerner und metallener Pfeifen, die dieses „Instrumentenhaus“ ausmachen.
1700 Pfeifen sind es in der Friese-Orgel der Paulskirche, dem größten Instrument des Schweriner Meisters. Lediglich 76 dieser Pfeifen sind in der Fassade zu sehen. Das Instrument hat 31 Register, über die der Organist den Klang färben kann: mehr Tiefe, mehr Tremolo, lieblich-schwebend oder voluminös-erhaben. Die Orgel zählt zu den romantischen Instrumenten, die meisten Orgeln in den Kirchen Mecklenburgs stammen aus dieser Epoche. So passt das Instrument besonders gut zur Musik der Künstler dieser Zeit, sei es Brahms oder Mendelssohn-Bartholdy. Aber auch da gibt es nichts in Stein gemeißelt: Frühbarockes von Buxtehude klingt auf der Orgel genauso wie Zeitgenössisches von Arvo Pärt –von letzterem können sich Besucher des Adventskonzerts am 15. Dezember um 18 Uhr überzeugen. Beim Orgelspielen und Registrieren, sagt Christian Domke, sei es eben wie mit dem Kochen: Man müsse schauen, was im Haus ist und was sich darauf machen lässt.
Dennoch wäre da eine kleine Sache: Während Kochen Chemie ist, braucht es bei der Orgel Physik. Es geht um Frequenzbereiche, Schwingungen und Wellen. Je länger und breiter eine Pfeife, um so tiefer ihr Ton. Je größer das Instrument, umso besser der Klang – die Luftsäule, die in einer Pfeife entsteht wird dann nicht von der benachbarten gestört und umgekehrt. Hölzerne Pfeifen klingen runder und wärmer, metallene heller und schärfer. Wie beim Hausbau ist die Wahl des Materials manchmal auch eine Geldfrage – hölzerne Pfeifen kosten weniger. Und natürlich hängt sie auch davon ab, wo eine Orgel steht. „In Waldgebieten findet sich mehr Fichtenholz, in Bördelandschaften zum Beispiel mehr Obstbaumholz wie Kirsche“, weiß Christian Domke.
In ganzer Schönheit offenbart sich das Innere, wenn die Orgel erklingt. Für jeden Ton, jede Färbung, jede Lautstärke ist hinter der Fassade vorgesorgt. Klar: Die Orgel trägt ihren Beinamen als „Königin der Instrumente“ zu Recht.
Katja Haescher