15.11.2019

Hausgeschichten

„Medizinischer Charakter“

Armenhaus, Hilfskrankenhaus, Frauenklinik und Prüflabor – die Geschichte des Hauses „Seeblick“
Das Haus „Seeblick“ im November 2019
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Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: die ehemalige Frauenklinik „Seeblick“ in der Bornhövedstraße 78.

Armenhaus – das klingt nach einer Fürsorgeeinrichtung für Mittellose. Im Prinzip stimmt das auch; das eine oder andere dieser Stätten war aber gleichzeitig ein sogenanntes Arbeitshaus: Wer über kein Geld verfügte, musste es sich dort sauer verdienen. Bernd Kasten schreibt in seinem zusammen mit Jens-Uwe Rost verfassten Buch „Schwerin. Geschichte der Stadt“: „Noch der 1909 errichtete Neubau eines Armenhauses am Hintenhof wies […] eine Abteilung zur Aufnahme ‘arbeitsfähiger und der Arbeitsscheu verdächtiger Personen‘ auf.“ So dienten viele Armen-/Arbeitshäuser gleichzeitig als „Mittel der Abschreckung“ (Kasten).

Das Armenhaus „Seeblick“ am Hintenhof (heute Bornhövedstraße) war der Nachfolgebau eines Armenhauses in der Rostocker Straße (heute Goethestraße). Der Gesamtkomplex bestand aus einem zweiteiligen Hauptgebäude mit L-förmigem Grundriss, zwei Nebengebäuden (Stall und Desinfektionshaus) sowie einem Obstgarten. Es handelte sich allerdings nicht um ein reines Armenhaus, sondern gleichzeitig um ein Altenheim mit 60 Pflegeplätzen. Für die Armen standen 40 Plätze zur Verfügung.
Auf diese Art wurde die Einrichtung auch mindestens die nächsten drei Jahrzehnte genutzt. Ab 1941 folgte die Umwandlung in ein Hilfskrankenhaus für Infektionskranke; das betraf zunächst den Altenheimteil. Hilfskrankenhäuser entstanden seinerzeit auch auf dem Lewenberg und dem Sachsenberg, weitere Einrichtungen kamen später kurzzeitig hinzu – die Bettenkapazität in Schwerin reichte für die vielen Tuberkulose- und Typhuskranken nicht aus.

Das konnte aber nicht auf Dauer so bleiben. Dr. Wilfried Kopp schreibt in „Das Gesundheitswesen der Stadt Schwerin, Teil 1“ (1972 vom Stadtarchiv herausgegeben): „Verschiedene als Hilfskrankenhäuser genutzte Gebäude mußten dringend wieder ihrem eigentlichen Zweck zugeführt werden […].“ So geschah es. Zunächst, 1950, gab die Rote Armee ihr als Lazarett genutztes Gebäude auf dem Lewenberg zurück. Der Komplex in der Bornhövedstraße 78 folgte wenig später. Kopp spricht von einer Dreiteilung, die nun im städtischen Gesundheitswesen Schwerins erwirkt werden konnte: „für die chirurgischen Pa­tien­ten das Stadtkrankenhaus, der ‘Seeblick‘ als frauen­ärztliche Abteilung und für die inneren Erkrankungen der ‘Lewenberg‘“.

Im September 1951 zog das Entbindungsheim aus der Schliemann- in die Bornhövedstraße. Das Haus „Seeblick“ verfügte über 150 Betten für Gynäkologie und Geburtshilfe, eine Frühchenstation und zwei Operationssäle. Ab 1956 gehörte die Frauenklinik zusammen mit mehreren anderen Schweriner Kliniken zum Bezirkskrankenhaus.  
Im Keller der Frauenklinik wurde Anfang der 1970er Jahre ein neuer Kreißsaaltrakt eingerichtet. Die Entwürfe dazu stammten vom damaligen Klinikchef Dr. P. Wille persönlich. Im April 1973 wurde der neue Trakt in Betrieb genommen; somit standen jetzt sogar 171 Betten zur Verfügung. Zwei Jahre später wurde der gynäkologische Opera­tions­trakt modernisiert und im März 1976 übergeben.

Zu Beginn des Umbaus stand allerdings schon fest, dass die Klinik in das zu dem Zeitpunkt bereits im Bau befindliche neue Bezirkskrankenhaus umziehen würde. Am 7. Oktober 1979, dem 30. Geburtstag der DDR, erfolgte dann der Umzug in die Wismarsche Straße. Bis dahin kamen in der Bornhövedstraße zirka 40.000 Kinder zur Welt, darunter die offiziell einhunderttausendste Einwohnerin Schwerins, die 1972 dort geboren wurde.

Danach eröffnete im „Seeblick“ vor­übergehend ein Kinderheim. Aber schon im Oktober 1984 zog das Bezirks­hygiene­institut dort ein. Zuvor war das Gebäude saniert worden. Das Institut war bis dahin am Großen Moor 36 sowie in mehreren Außenstellen untergebracht. Im südlichen Teil des Hauptgebäudes befinden sich mittlerweile Räume des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGuS), sozusagen der Nachfolger des Hygiene­instituts.

Das Landesamt ist allerdings dort nur noch Mieter, denn Anfang 2018 hat das Unternehmen HygCen, ein Prüflabor für Medizinprodukte, den gesamten Komplex gekauft – außer den westlichen Teil, wo sich früher mal der „Seeblick“-Garten befand und jetzt eine Kita steht.
Das LAGuS zieht voraussichtlich im Jahr 2021 aus. Dann möchte HygCen dort um­bauen. Dessen Geschäftsführer Dr. Sebastian Werner sagt, seit Bestehen des Komplexes sei die Substanz nicht grundlegend saniert worden. Die Kernsanierung der denkmalgeschützten Gebäude ist für 2022/23 geplant, den nötigen Bauantrag will er 2021 stellen.

Das Hauptgebäude umfasst gut 3.600 Quadratmeter Nutzfläche. Werner sagt, das Labor benötige nur etwa 1.500 Quadratmeter davon (plus weitere 1.100 Quadratmeter Reserve, um das Unternehmen später erweitern zu können); für 1.000 Quadratmeter suche HygCen aber noch einen Projektpartner. „Es ist unsere Traumvorstellung, einen Partner aus dem Gesundheitswesen – auch im weiteren Sinne – zu finden, um den medizinischen Charakter des Hauses weiterzutragen“, sagt Werner. S. Krieg