15.11.2024

Hausgeschichten

Dunkle Stunde eines Stadtteils

In der Feldstadt fielen am 7. April 1945 Bomben – Spuren sind in der Wallstraße 46 noch heute zu sehen
Das Haus in der Wallstraße heute
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Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal in der Wallstraße 46, wo Spuren in der Fassade noch heute an den Bombenangriff auf Schwerin am 7. April 1945 erinnern.

Wieder ist es eine Katasternummer an der Hauswand. 1305AA, das zweite A schon ein bisschen abgeplatzt. Aber die Zahl ist da und damit längst klar, dass das in der Ausgustausgabe vorgestellte Küsterhaus nicht das letzte in der Stadt ist, das noch eine solche Nummer trägt. In der Voßstraße und in der Friedensstraße gibt es weitere – und eben auch in der Wallstraße 46. „Wir haben diese Stelle beim Anstreichen der Fassade freigelassen, weil es ein Stück Geschichte ist“, sagt Thomas Helms. Er kennt sich mit Geschichte aus: Als Verleger sind der 75-Jährige und seine Frau Dr. Sabine Bock auf Landes-, Kultur- und Zeitgeschichte spezialisiert. Mehr als 400 Bücher sind in den 30 Jahren erschienen, in denen es den Thomas-Helms-Verlag nun in der Wallstraße gibt.

Das Haus dort erzählt aber nicht nur Verlags-, sondern auch Familiengeschichte: Helms‘ Großvater Friedrich kaufte es 1904 und richtete in dem Eckgebäude einen Lebensmittel- und Kolonialwarenladen ein. „Er war damals 24 und hatte nach dem Kauf Schulden von 24.000 Goldmark“, erzählt Thomas Helms. Das Haus entstand 1899/1900 auf dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei – als eines der letzten in der Feldstadt. Dieser neue Stadtteil, einst Viehtrift, war mit der Eröffnung des neuen Friedhofs am Galgenberg – dem heutigen Alten Friedhof – interessant geworden. Die Stadt wuchs jetzt südlich der Altstadt weiter. Das um die Jahrhundertwende entstandene Haus wurde von einem Investor errichtet, der es anschließend „trocken wohnen“ ließ. So nannte man es, wenn die Wohnungen in den vom noch frischen Kalkmörtel feuchten Häusern billig vermietet wurden – an arme Leute, die von Mietshaus zu Mietshaus zogen, bis sie irgendwann an Tuberkulose starben.

Als Friedrich Helms das Haus kaufte, zog er mit seiner Frau ins Erdgeschoss. Hinter dem Ladenraum befanden sich Stube und Küche. „Man saß also in der Stube und wenn die Ladenglocke schellte, ging man nach vorn und bediente die Kunden“, sagt Helms. Seine Familie führte den Laden bis 1949 und verpachtete ihn dann.

Eine Zäsur stellt ein Datum dar, das an der Fassade zu lesen ist: 7. April 1945. Thomas Helms hat die Zahlen unterhalb der Löcher anbringen lassen, die Bombensplitter an jenem Tag hinterlassen haben. Damals war der Schweriner Güterbahnhof zu einem so genannten „Sekundärziel“ für amerikanischen Bomber geworden. Sechs Staffeln, die den als Ziel ausgegebenen Flugplatz Parchim aufgrund schlechter Sichtverhältnisse nicht ins Visier nehmen konnten, flogen nun nach Schwerin. Dabei orientierten sich die Piloten an der Bahnlinie durch die Stadt. Warum die meisten Flugzeuge ihre tödliche Fracht bereits zwei Kilometer vor dem Güterbahnhof abwarfen, lässt sich laut Stadtarchivar Bernd Kasten nicht mehr rekonstruieren. Der Historiker hat ein Buch herausgegeben, in dem er den Bombenangriff am 7. April 1945 beschreibt, Opfer, Schäden und Folgen betrachtet. Darin sind Namen und Geburtsdaten von mehr als 200 Menschen zu lesen, die an diesem Tag aus dem Leben gerissen wurden. Die meisten hatten mit einem Angriff überhaupt nicht gerechnet, da die Stadt bis dahin vom Krieg nahezu verschont worden war. So gelangten viele nicht rechtzeitig in Luftschutzbunker oder Keller, als 92 Tonnen Bombenfracht auf die durch die Feldstadt verlaufene Bahnlinie fielen.

Dabei wurden 42 Häuser völlig zerstört, allein 12 in der Wallstraße. Thomas Helms hat beim Umbau des Hauses in den 1990er Jahren eine Tür gefunden, die von der Druckwelle komplett verbogen war. Ein Vitrinenschrank im Wohnzimmer zeigt im Holz noch heute die Wunde durch einen Splitter. Dennoch kam die Familie glimpflich davon – verglichen mit dem Schicksal vieler Nachbarn. Eltern verloren ihr Kinder, Frauen ihre Männer, Kinder ihre Mütter. Das von Bernd Kasten herausgegebene Buch erinnert an sie. Erschienen ist es im Thomas-Helms-Verlag in der Wallstraße 46.


Katja Haescher