Hausgeschichten
Barock in bester Lage
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Heute am Schelfmarkt 1, wo ein Stadtpalais erst das Zuhause adliger Familien und später ein Schwesternwohnheim war.
Schwerins Schelfstadt boomt. Das gilt heute und das galt auch im 18. Jahrhundert, als hier ein völlig neuer Stadtteil entstand. Modern war damals Barock und das Gebäude mit der heutigen Adresse Schelfmarkt 1 entsprach ganz dem Zeitgeist. Es ist bereits auf dem Zülowschen Plan der Schelfstadt von 1747 eingezeichnet und vermutlich kurz zuvor errichtet worden. Der Schelfmarkt war der Marktplatz der Neustadt und das Palais grenzte an deren Rathaus. Der Blick aus dem Fenster ging auf die Schelfkirche und sicher begleitete deren Glockenklang die Bewohner des Hauses bei ihren Alltagsgeschäften.
Der erste belegbare Besitzer war der herzogliche Fiskalrat Grantz, dem 1767 der Kammerherr und Kammerrat von Kambs folgte. 1780 erwarb Hofmarschall von Bülow das Haus und erweiterte es beträchtlich. Jetzt entstanden die doppelte Gaubenreihe und eine nördliche Aufzugsgaube. 1827 dann der nächste Besitzerwechsel: Bülows Erben verkauften das Haus an die Ehefrau des Landdrosten von Plessen, eine geborene von Brandenstein. Der Gebäudekomplex bestand zu diesem Zeitpunkt aus dem Haus, dem Seitenflügel, einem Pferdestall und einem Wagenschuppen. Den Unterlagen im Stadtarchiv kann Archivar Bernd Kasten entnehmen, dass das Ensemble mit einem Feuerversicherungswert von 10.050 Reichstalern zu den teuersten Gebäuden der Schelfstadt gehörte. Noch heute erzählen Teile der Innenausstattung von der Zeit als Stadtresidenz adliger Familien.
1895 dann ein neuer Abschnitt: Gutbesitzer Ludwig Diestel verkauft das Gebäude an das Land Mecklenburg. Jetzt zieht der „Mecklenburgische Marien-Frauen-Verein“ ein – erst zur Miete, später kauft er das Haus. Aufgabe der Marienschwestern war es, „im Feld verwundete und erkrankte Krieger“ zu pflegen. Der Verein war 1880 unter dem Protektorat von Großherzogin Marie gegründet worden und hatte in Friedenszeiten wenig zu tun. Dennoch wurden auch jetzt qualifizierte Krankenschwestern ausgebildet – und zwar am Schelfmarkt 1. Neben den Zimmern der Schwestern entstand hier ein kleines Krankenhaus, in dem 1908 immerhin 144 Patienten behandelt wurden. Mit einigen Umbauten im Jahr 1909 fand sogar ein OP-Saal in dem einstigen Adelspalais Platz.
Dennoch genügte ein altes Fachwerkhaus auf Dauer nicht den Anforderungen moderner Krankenpflege. Der Verein ließ deshalb direkt an das Gebäude angrenzend ein neues Krankenhaus errichten. Der Komplex in der damaligen Lützowstraße, der heutigen Röntgenstraße, öffnete 1914 mit einer Kapazität von 50 Betten. Allerdings war gleich zu Beginn kaum ein normaler Krankenhausbetrieb möglich, wurde doch das Gebäude nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs gleich mit 90 verwundeten Soldaten belegt. Im Haus am Schelfmarkt entstand ein Wohnheim für 30 Lazarettschwestern. Hier hatten sie im „behaglichen abendlichen Zusammensein, beim Vorlesen guter Bücher, Handarbeit oder Spiel“ den „so notwendigen Ausgleich für die ernste Arbeit auf den Stationen“, heißt es im Rechenschaftsbericht von 1916 des Marien-Frauenvereins.
Nach einer Episode als Altersheim für fünf Damen in den 1930er Jahren wurde das Haus nach Kriegsausbruch 1939 wieder Schwesternwohnheim. Allerdings nicht für lange. Aus dem Marienkrankenhaus wurde nach 1945 eine Poliklinik und nach 1949 mussten die Schwestern nach und nach ausziehen. Ihr „behagliches Zuhause“ musste jetzt Behandlungsräumen und einer Apotheke weichen. Die Apotheke existierte bis 2003, danach wurde das ganze Gebäude 2010 saniert und in neun Wohnungen aufgeteilt. Und auch eine Arztpraxis ist hier heute wieder zu finden.
Katja Haescher