Hausgeschichten
Die Platte im Stadtkern
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: im Großen Moor, wo in den 1970er- und 1980er-Jahren sozialistisches Bauen das Gesicht eines alten Stadtteils veränderte. Schon im 13. Jahrhundert wohnten Menschen in Schwerin „uppen Moore“. Damals befand sich zwar ein Großteil des Gebiets noch „außerhalb der Planken“, also der Stadtbefestigung, dennoch gehört der Große Moor mit den angrenzenden Straßen zu den ältesten Teilen des Schweriner Altstadtkerns. Überraschungen inklusive: Archäologische Untersuchungen bei den jüngsten Bauarbeiten haben zu Tage gebracht, dass sich am Großen Moor ein schiffbarer Kanal befunden haben soll, dessen Anfänge im 13. Jahrhundert liegen – der noch heute für Altstadtstraßen untypisch breite Straßenraum ließe sich so erklären. Es herrschte also Betrieb in der Siedlung auf dem Moor, in der Bootsbauer und Schiffer ihren Gewerken nachgingen. Im 16. und 17. Jahrhundert wüteten mehrere Stadtbrände, so dass auch hier die Straßenzüge immer wieder neu bebaut werden mussten. Ein kleiner Bauboom setzte während der Regierungszeit des Herzogs Friedrich Wilhelm Ende des 17./Anfang des 18. Jahrhunderts ein, als auch die heutige Schelfstadt wuchs. An die damals entstehenden Fachwerkhäuser erinnern am Großen Moor noch die Gebäude an den Hausnummern 36 und 38. Sie sind Zeugen eines historischen Stadtviertels, das sich heute angesichts der von Plattenbauweise geprägten Straßen nur noch erahnen lässt. Neben diesen palaisartigen Bauten entstanden im 18. Jahrhundert auch noch bescheidenere, mit Schilf und Holzschindeln gedeckte Häuser sowie im 19. Jahrhundert zwei-, drei- und mehrgeschossige Wohnhäuser.
Zu DDR-Zeiten bröckelte der Große Moor vor sich hin. Eine Erhaltung der historischen Substanz war jetzt Illusion – und so wurde ein Großteil des historischen Viertels 1977 abgerissen und in den Burgsee gekippt. Dessen Fläche schrumpfte dabei erheblich und wurde erst in Vorbereitung der Bundesgartenschau wieder um mehr als zwei Hektar erweitert. Der Große Moor und angrenzende Straßen waren jetzt Ort des bedeutendsten innerstädtischen Umgestaltungsprojekts. Ende der 1970er-Jahre begann der erste von insgesamt vier Bauabschnitten, in dessen Zuge in der Puschkinstraße 110 Neubauwohnungen auf vier Geschossen in industrieller Großplattenbauweise entstanden. Bis 1985 ging es dann mit den 120 ersten Neubauwohnungen am Großen Moor weiter. Beengte Platzverhältnisse führten unter anderem dazu, dass das Wohnungs- und Gesellschaftsbaukombinat Schwerin sein Plattensortiment weiterentwickeln musste. Und noch etwas kam dazu: Man wohnte jetzt zwar im Neubau, musste aber trotzdem Kohlen schleppen. Die neu entstehenden Wohnungen wurden dezentral mittels Kachelofen beheizt, der sich von der Küche aus befeuern ließ. Zu den Neubauwohnungen gehörten auch solche in Maisonette-Bauweise: Während sich im ersten Geschoss der Häuser Ein- und Zweizimmerwohnungen befanden, erstreckte sich die darüber liegende Dreizimmerwohnung über zwei Etagen und bot damit Abwechslung im DDR-typischen Neubau-Einerlei. Mansarddächer mit Ziegeleindeckung, gegliedert von vorgezogenen Loggien, gehörten zur Neuentwicklung des Schweriner Baukombinats und sollten sich an eine innerstädtische Bauweise anlehnen. Gleiches traf für die Geschäfte zu, die ins Erdgeschoss zogen, außerdem entstanden ein Reisebüro und ein Restaurant.
Und immer gab es einen Plan oder besser gesagt: Termindruck. Sollte Bauabschnitt 2 bis zur 825-Jahrfeier 1985 stehen, setzte der Bauernkongress 1987 die nächste Marke. Jetzt hatte sich Erich Honecker zum Schwerin-Besuch angekündigt und ein Rundgang durch den Großen Moor war Teil des Programms – zumindest von außen mussten die neuen Häuser also vorzeigbar sein. Und nicht nur vom Genossen Honecker gab es dafür „höchstes Lob“: 1988 wurde anlässlich des Tages des Bauarbeiters ein „Kollektiv Schweriner Architekten und Bauleute“ mit dem Architekturpreis der DDR geehrt.
Katja Haescher