14.06.2024

Hausgeschichten

Die Geschichte eines Kinderheims

Am Lewenberg gibt es ein helles und ein dunkles Kapitel: Alles begann mit einem Ort neuer Pädagogik
Das erste Anstaltsgebäude, entworfen von Georg Daniel
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Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal am Lewenberg, wo in einem denkmalgeschützten Park mehrere historische Gebäude stehen.
 

Ein helles und ein dunkles Kapitel sind mit diesem Komplex verbunden. Hell, weil hier im 19. Jahrhundert erstmals Kinder mit kognitiven Entwicklungsstörungen Förderung erfuhren. Dunkel, weil diese Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus als minderwertig eingestuft und kaltblütig ermordet wurden. Seit zwei Jahren liegt vor dem Eingang zum Gelände eine Stolperschwelle. Sie erinnert an das Leid junger Menschen, denen andere aufgrund ihres individuellen Seins das Lebensrecht absprachen.

Der Schweriner Stadtarchivar Bernd Kasten hat in einer Publikation in der Schriftenreihe des Historischen Vereins diese Geschichte beleuchtet – von der Entstehung der „Anstalt für geistesschwache Kinder“ bis zum Euthanasie-Mord. Alles begann mit Johann Basedow, einem Lehrer an der – damals so bezeichneten – Irrenanstalt Sachsenberg. Dieser hatte sich auf einer mehrmonatigen Reise durch Deutschland bestehende Anstalten angesehen und brachte dieses Wissen mit nach Schwerin. Großherzog Friedrich Franz II. hatte nämlich entschieden, dass es eine staatliche Aufgabe sei, sich um „geistesschwache“ Kinder zu kümmern. Basedow schlug eine enge Verzahnung mit der Irrenanstalt am Sachsenberg vor, um sich neben dem pädagogischen von dort auch das medizinische Know-how zu sichern. So entstand in unmittelbarer Nähe ein Heim, das zu den ersten staatlichen Bildungsanstalten dieser Art in Deutschland gehörte. Georg Daniel, auf den viele Bauten in Schwerin zurückgehen, entwarf das 1874 eingeweihte Hauptgebäude. Daran war – und so hatte es auch der Großherzog angeordnet – an nichts gespart worden. Vielmehr habe die Anstalt alles bieten sollen, „... was die sorgsame Pflege der in solcher unterzubringenden unglücklichen Geschöpfe erheischt ...“ Das bedeutete unter anderem getrennte Korridore, weil die Anstalt auch Mädchen aufnehmen und das Aufeinandertreffen der Geschlechter unbedingt vermieden werden sollte. Zudem war Raum für die Andacht gefragt, so dass ein 120 Quadratmeter großer Raum als „Bet- und Eßsaal“ entstand. Dessen reich vertäfelte Wände und Fenster im neogotischen Stil zeigten, wie sich hier Nutzen und Ästhetik verbanden.

Dies und die pädagogisch einfühlsame Betreuung ließen die Anstalt schnell zu klein werden. Aufgrund der großen Nachfrage enstand 1896 ein weiteres Pflegehaus, so dass es nun 130 Plätze gab. Jetzt wurden auch schwerstbehinderte Kinder aufgenommen. Nach Basedows Tod behielt die Anstalt unter Nachfolger Dr. Louis Jenz ihren guten Ruf. Die Kinder wurden human behandelt, Züchtigungen waren untersagt. Und schnell wurde wieder alles zu klein. Zum Renommee kam die Tatsache, dass viele Heranwachsende in der Anstalt blieben. Oft erwartete die Jugendlichen im Alltag auch kein menschenwürdiges Leben, so dass Jenz auch für ihren Verbleib plädierte.

Zwischen 1906 und 1908 entstanden zwei weitere Pflegehäuser, ein Wirtschafts- und ein Pförtnerhaus. Rund 250 Zöglinge und 80 Beschäftigte zählte das „Kinderheim Lewenberg“: Dieser wertungsfreie Name war 1909 dafür gewählt worden.

Schon in der Weimarer Republik wurde das Heim zum „ungeliebten Kostenfaktor“, wie Bernd Kasten schreibt. Das Niveau von Bildung und Pflege der Kinder sei jetzt hinter das der großherzoglichen Zeit zurückgefallen. Im Dritten Reich verschärfte sich die Entwicklung, die Pflege der Kinder als Belastung des Gemeinwesens darzustellen. Schließlich sprachen die Nationalsozialisten ihnen das Lebensrecht ganz ab. 1941 wurden etwa 200 Kinder auf den Sachsenberg verlegt, wo sie Dr. Alfred Leu ausgeliefert waren. Dieser war mit der Durchführung der Euthanasie-Morde beauftragt worden. Bis Mai 1945 wurden mehr als 200 Kinder vom Lewenberg auf dem benachbarten Sachsenberg ermordet.

1943 wurde das Kinderheim auf dem Lewenberg aufgelöst. Die Gebäude nutzte jetzt die Wehrmacht und ab 1945 die Rote Armee als Lazarett. Später zog hier die Innere Medizin des Stadtkrankenhauses ein.

Heute bietet der Park einen freundlichen Anblick. Eltern bringen ihre Kinder in die Kita, Gäste streben ins Parkcafé, Besucher ins Seniorenheim, Spaziergänger in den Park. Und die Stolperschwelle sorgt dafür, dass Geschichte nicht vergessen wird.


Katja Haescher