16.09.2022

Hausgeschichten

Der geheimnisvolle Tiefbunker

Blick in die Baugrube an der Westseite des Bahnhofs
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Unter dem Pflaster am Hinterausgang des Bahnhofs befindet sich noch heute Teil der Anlage

Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Diesmal: in einem unterirdischen Bunker neben dem Bahnhof.
Zugegeben: An diesem Bauwerk gehen die meisten Menschen nicht vorbei, sie gehen darüber hinweg. Denn dass sich unter dem Pflaster des Vorplatzes der einstigen Reichsbahndirektion noch Bunkerräume befinden, ist den wenigsten Schwerinern bekannt. Dies ging selbst vielen Angestellten der Reichsbahndirektion so: Den Tiefbunker umgab stets eine Aura des Geheimnisvollen. Manche Mitarbeiter hatten zwar vage Vorstellungen von der Lage, der Größe und der Nutzung der Anlage, die aber nicht der Realität entsprachen. Die Geschichte der Anlage führt in
die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Deutsche Reichsbahn besaß jetzt nicht nur eine enorme Bedeutung für die Kriegswirtschaft, sondern auch für die Truppen- und Waffentransporte. Sie war nach militärischen Kriterien straff organisiert. Um einem Ausfall vorzubeugen und den Eisenbahnbetrieb auch unter den Bedingungen des Krieges aufrecht halten zu können, waren bereits zu Kriegsbeginn
eine Reihe von Maßnahmen realisiert worden. Dazu gehörten die Sicherung der rüstungs- und kriegswichtigen Produktion, der Transport des Kriegsmaterials, der Soldaten und der Schutz vor Luftangriffen.
In Schwerin ging es gleich nach Kriegsbeginn am 1. September 1939 los. Die Bauzeichnungen der Firma Karl Fr. Stein zum Ausbau des Kellers des Verwaltungsgebäudes der Direktion zu einem Luftschutzkeller tragen das Datum 16. September 1939. Teil dieser Schutzmaßnahmen war es, Kellerfenster zuzumauern, Stützen zur Stabilisierung der Decke einzuziehen und die Türen durch gasdichte
Stahltüren mit Knebelverschlüssen zu ersetzen. Die Räume gestaltete man zu Gemeinschaftsräumen um, ausgerüstet mit Pritschen und Sitzgelegenheiten.
Auch die Keller des Eilgutgebäudes, nördlich des Bahnhofsgebäudes gelegen, wurden von der Firma Glatz & Sohn zu Luftschutzkellern umgebaut. Zusätzlich ergab sich die Notwendigkeit eines Aushilfsleitstandes, um den Eisenbahnbetrieb bei einer eventuellen Zerstörung der Direktion zentral aufrecht erhalten zu können.
Dafür wurde unter dem Direktionsvorplatz ein Tiefbunker errichtet, in dem unterirdisch die annähernd gleichen Arbeitsplätze wie über der Erde vorhanden waren – lediglich Telefon, Morsegeräte und
Fernschreiber hätten mitgebracht und in die vorbereiteten Anschlüsse gesteckt werden müssen. Wie gefährlich die Situation damals war, belegt ein Luftangriff, bei dem in der Severinstraße, nur 100 Meter von der Direktion entfernt, die Häuser mit den Nummern 16 bis 20 durch Bomben zerstört wurden.
Der Eingang zum Tiefbunker lag versteckt und von außen nicht erkennbar im nördlichen Teil des Kellers des Direktionsgebäudes. Durch Stahltür und Schleuse gelangte man in einen schmalen, 15 Meter langen Gang. 18 Stufen führten nach unten. Vom Mittelgang des 15 mal 15 Meter großen Komplexes gingen nach links und rechts insgesamt zehn Räume ab. Die Bunkerdecke bestand aus 1,2 Meter starkem Stahlbeton, der Fußboden der Schutzräume lag vier Meter unter dem Pflaster. Zwei Notausstiege führten über 52 Steigeisen nach oben und endeten in den Rasenanlagen.
Nach dem Krieg war in den Räumen das Reichsbahnarchiv untergebracht. Nach 1976 nutzte die Kampfgruppe der Deutschen Reichsbahn den Bunker. Fünf der zehn Räume waren für den Aufenthalt von 66 Personen ausgelegt, in den restlichen befanden sich Sanitäranlagen, Aggregate zur Belüftung und Vorräte. Mit dem Umbau des Hauptbahnhofs und dem damit verbundenen Tunneldurchbau musste etwa die Hälfte des Bunkers weichen. Wer bei den Arbeiten einen Blick in die Baugrube warf, der konnte erleben, wie mit einer riesengroßen Betonkreissäge ein Teil der Bunkerdecke abgetrennt wurde. Damals verschwand auch der ehemalige Luftansaugturm des Bunkers, ein aus Ziegelsteinen gebauter Turm mit zwei Kandelabern. Der Direktionsvorplatz wurde nach dem Umbau völlig neu gestaltet.

Peter Falow