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Das „Kaufhaus Kychenthal“
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und öfter ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken.
Diesmal: Am Markt 4/5.
Von dem ursprünglichen Gebäudekomplex ist inzwischen nur noch die Fassade übrig geblieben, alles andere wurde umgebaut und erneuert. An den jüdischen Kaufhausbetreiber Louis Kychenthal und seine Familie erinnern heute vier der fünf „Stolpersteine“ auf dem Gehweg.
Im Juli 1894 eröffnete Kychenthal im Haus Am Markt 4 zunächst ein Textil-Geschäft, zu haben waren dort unter anderem „Wäsche & Aussteuer“, „Bettfedern & Daunen“ sowie Bekleidung. An gleicher Adresse, rechts daneben, befand sich bereits seit 1895 die „Caffee-Gross-Rösterei“ von H. J. Jünge. Im wesentlichen kleineren Haus, Am Markt 5, das sich links direkt anschließt, gab es Papier und Schreibwaren zu kaufen.
Kychenthal und Jünge waren nicht die ersten Geschäftsleute an diesem Standort. Zuvor hatten sich hier nacheinander unter anderem ein Kaufmann, ein Maler und ein Bäcker niedergelassen. Sie agierten aber vermutlich noch in einem früheren Bau, der wohl in den 1840er Jahren durch das jetzt bekannte Haus nach Plänen von G. A. Demmler ersetzt wurde.
Nachdem Louis Kychenthal 1894 das Geschäft von F. W. R. Schultz gekauft hatte, erwarb er kurz darauf das Haus 5 dazu und konnte so seine Geschäftsräume ausweiten. Im Jahr 1906 kaufte er auch noch die Immobilie Schusterstraße 1. Über diese drei Häuser zog sich nun das Textilfachgeschäft, das seit den 1920er Jahren „Kaufhaus Kychenthal“ hieß. Um 1925 wurde der Hof überdacht, wodurch ein Anbau entstand. Die drei Häuser wurden 1932 umgebaut und erhielten ein gemeinsames Dach. Über dem Kaufhaus wohnte Louis Kychenthal mit seiner Frau Annemarie und seinen Söhnen Ludwig und Willy. Die letzten Bauarbeiten, die die Kychenthals in Auftrag gaben, war 1937 die Erneuerung der Fassade.
In der Kristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde auch das Kaufhaus Kychenthal nicht verschont. Die Nazis zerstörten die gesamte Einrichtung, verhafteten den Inhaber und seine beiden Söhne und sperrten sie in ein Gefängnis in Neustrelitz. Während der Haft wurde Louis Kychenthal gezwungen, sein Kaufhaus zu einem extrem niedrigen Preis zu veräußern. Neuer Besitzer nach der sogenannten Arisierung des Geschäfts war Bernhard Knop aus Neukloster.
Annemarie Kychenthal floh 1939 mit ihren Söhnen und Enkeln nach Chile. Louis Kychenthal blieb in Schwerin und wurde im November 1942 im Alter von 79 Jahren ins KZ Theresienstadt deportiert, wo er ein halbes Jahr später starb. Sein Enkel Hans Kychenthal lebt heute in der chilenischen Hafenstadt Valparaiso, dort führt er ein erfolgreiches Werbegeschenke-Unternehmen.
Die drei Häuser Am Markt 4/5 und Schusterstraße 1 wurden 1939 im Erdgeschoss (Ladenbereich) umgebaut, und die Dachgeländer sowie die Balkone wurden entfernt (jetzt sind sie wieder da). Der ursprüngliche Plan, die Fassade wesentlich zu vereinfachen, wurde nicht umgesetzt.
Zu DDR-Zeiten übernahm die Kommunale Wohnungsverwaltung den Gebäudekomplex, die untere Etage wurde wieder vom Einzelhandel genutzt. Während Knop und Nachfahren vor allem Damenmoden anboten, wurden dort später unter anderem Jagd- und Wanderausstattung angeboten. In den 1990er Jahren betrieb hier „Kettner“ eine Filiale.
Nachdem die Erbengemeinschaft Kychenthal die Rückübertragung der Immobilie beantragte, erhielt sie ihren Besitz 1996 tatsächlich wieder, verkaufte die Häuser aber kurz darauf an eine Immobilienfirma. Heute befinden sich Am Markt 4/5 ein Optiker, eine Kaffeerösterei und ein Haushaltsdesign-Geschäft. Im Jahr 2002 wurden die Häuser umfassend erneuert, nur die Fassade ist geblieben.
Vor drei Jahren besuchte Hans Kychenthal, der Enkel des Kaufhaus-Gründers, seine Heimatstadt, die er als Kleinkind verlassen musste. Angeregt durch die Recherchen von Matthias Baerens suchte er nach Spuren seiner Kindheit, seiner Eltern und Großeltern.
„Unsere Geschichte – Kychenthals Rückkehr“ heißt ein Film, den Baerens zusammen mit Thilo Tautz über das Schicksal der jüdischen Familie drehte. Umfangreiches Material über die Kychenthals findet sich auf Matthias Baerens‘ Weblog unter www.kychenthal.de. S. Krieg