15.03.2023

Leute

Rückkehr in eine fremde Welt

Fred Schulz mit seinem neuen Buch: Die Geschichte, sagt er, ist ausgedacht, aber nicht erfunden.
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Fred Schulz war zur Zeit des Mauerfalls auf einem Containerschiff / In einem Buch erzählt er davon

Wo warst du, als die Mauer fiel? Wie viele Ostdeutsche weiß Fred Schulz das ganz genau. Ungewöhnlich ist seine Antwort dennoch: in der Türkei. Als in Berlin tausende Menschen in den Westteil der Stadt strömten, war der Schweriner zusammen mit wenigen an Bord eines Containerschiffes des VEB Deutfracht/Seereederei in Richtung Osten unterwegs. „Wir sind am 20. Oktober 1989 aufgestiegen und waren am 26. Dezember wieder zu Hause in einer ganz anderen Welt“, sagt er. Weihnachten 2022, 33 Jahre danach, hat Fred Schulz seiner Frau Sanny ein ganz besonderes Geschenk unter den Baum gelegt. „Kursänderung“ heißt sein Roman, in dem er die Ereignisse dieser besonderen Monate auf See Revue passieren lässt. Es ist, wie er selbst schreibt, eine Zeitreise ins Jahr 1989, ausgedacht, aber nicht erfunden. 
Die Erlebnisse in diesen Monaten auf See sind Inspiration, Taktgeber, Fahrrinne für die Schilderung, welche die Monate März bis Dezember umfasst. Die Personen sind fiktiv, die Charaktere sind es nicht, und auch der Wetterbericht stimmt. 
Dass die Kursänderung von damals nun zwischen zwei Buchdeckeln steckt, ist ebenfalls Ergebnis einer längeren Reise, der Lebensreise, könnte man sagen. Anfangs war ein Drehbuch daraus geworden. „Ich habe in Schwerin beim Filmkunstfest gejobbt und einen Regisseur kennen gelernt, der mich ermutigt hat, es zu schreiben“, erinnert sich Fred Schulz. Allerdings lautete das Urteil am Ende: „Für einen Film muss da mehr passieren.“ 
Doch dem Schweriner war es wichtig, die Geschichte authentisch zu erzählen: „Jeder, der bei der Deutschen Seereederei gefahren ist, hätte mir doch einen Vogel gezeigt, wenn am Ende so ein Titanic-Verschnitt nebst Liebesschnulze herausgekommen wäre“, sagt Schulz. Also nahm er den Kugelschreiber, setzte sich wieder hin und schrieb das auf, was heute in den beinahe 400 Romanseiten steckt. „Und das ist nur so geflutscht“, sagt der 63-Jährige. Das Schweriner Urgewächs hat eine Menge zu erzählen. Fred war 16, hatte gerade die zehnte Klasse abgeschlossen, als er bei der Deutschen Seereederei die Ausbildung zum Vollmatrosen der Handelsschifffahrt begann. „Ich wollte fremde Länder sehen, rauskommen, da war viel Abenteuerlust dabei“, erinnert er sich. 
1976 ging der Schweriner zum ersten Mal an Bord – Ziel Kuba. Das Lehrschiff „Georg Büchner“ verfügte über richtige Klassenräume, in denen die Lehrlinge den Unterricht in Theorie erlebten und beim Sturm in der Biskaya die erste Praxis in Sachen Seekrankheit. Im zweiten Lehrjahr war Fred Schulz bereits nach Frankreich, Dänemark und zu den Bahamas unterwegs. „,Ansichtskartensammler‘ haben uns diejenigen genannt, die bei der Fischerei gefahren sind“, erzählt er. Doch bei allen Möglichkeiten, von denen ein durchschnittlicher DDR-Bürger nur träumen konnte, wuchsen auch hier die Restriktionen: Begegnungen mit Seeleuten aus dem Westen versuchte man immer stärker zu unterbinden. Als die Männer im Oktober 1989 an Bord gingen, gärte es überall in der DDR. „Die Sachsen unter uns fuhren in dem Wissen, dass bei ihnen die Luft brennt“, erinnert sich Fred Schulz. Vom Mauerfall selbst erfahren er und die anderen Besatzungsmitglieder über Funk und aus dem Radio. „Wenn du auf einem Schiff bist, dann bleibst du stehen in der Zeit. Du lebst zwei Leben, eins zu Hause und eins auf See“, sagt er. 
Im Leben zu Hause geht plötzlich nichts mehr seinen sozialistischen Gang. Aber Fred Schulz kann sich auf Neues einstellen. Bis 1991 fährt er zur See, dann setzt er sich noch einmal auf die Schulbank, um Umweltschutztechnik zu studieren. Er arbeitet in der Umwelterziehung, engagiert sich in seiner Freizeit bei Greenpeace. Die Musik spielt in seinem Leben eine wichtige Rolle, davon zeugt in seinem Wohnzimmer nicht nur das Autogramm von Silly auf dem Türrahmen. Die ganze Wand ist eine Galerie mit Bildern musikalischer Begegnungen. Ein Foto seines guten Freundes Reinhard Lakomy hängt dort inmitten der Familienfotos, es gibt Erinnerungen an legendäre Zappanalen, Festivals, Autogrammstunden. Und es gibt die weite Welt, mit Mitbrinseln aus Japan, Hongkong, Singapur... Beim Schreiben ist der Schweriner wieder in viele Erinnerungen eingetaucht – zum Beispiel an das Jahr 1982, als sein Schiff nach einer Kollision, nachts im Nebel, beinahe in der winterlichen Nordsee untergegangen wäre.
Damals lernte Fred Schulz Amsterdam kennen – mehrere Wochen lag das Schiff dort in der Werft. „Die Toleranz und der Lebensstil dieser Stadt haben mir ungeheuer imponiert“, sagt er. 
Dass er auf dem Balkon, am Küchentisch, im Wohnzimmer an einem Roman schreibt, wissen lange nur seine Frau und sein Sohn. Als das fertige Buch dann vor mehreren Wochen erstmals auch in Schweriner Buchhandlungen liegt, kann er einen Freudenschrei nicht unterdrücken. Auf dem nächsten Besatzungstreffen, das er für den Frühsommer organisiert, wird es einiges zu erzählen geben.

Katja Haescher