Leute
„Mich interessieren Menschen“
Viele Menschen scheitern an alltäglichen Dingen: Körperhygiene, Termine einhalten, Rechnungen bezahlen, Job und Wohnung finden. Oder schon beim „Bitte“ und „Danke“. Das sind die kompliziertesten der Klienten, die sich beim Verein „We 4 You“ melden – in der Hand einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein vom Jobcenter.
Dann kommt meist Helga Ihlenfeld ins Spiel. Sie setzt sich mit den Männern und Frauen an den Tisch und hört ihnen genau zu.
„Mich interessieren Menschen und das ganze Drumherum. Auch wenn sie mir Sachen erzählen, die ich nicht unbedingt wissen muss. Am Ende kann ich einschätzen, wie ich mit ihnen umgehen muss“, sagt sie. Ziel: die Hilfesuchenden alltagstauglich zu machen. Oder wie es bei „We 4 You“ heißt: Arbeitshemmnisse beseitigen. Seit sie Rentnerin ist, arbeitet die 69-Jährige auf 450-Euro-Basis für diesen Verein.
„Ich hatte schon die letzten gut zwanzig Jahre meines Berufslebens mit besonderen Menschen zu tun. Viele würden sie als schwierige Fälle bezeichnen“, sagt sie.
Sie habe aber immer gewusst, wie sie die Leute zu nehmen habe. Das fing schon in der Jugend an.
Geboren auf Rügen, wächst sie in Gottmannsförde bei Schwerin auf. Hier besitzt ihre Großmutter ein Haus, in das die Familie mit einzieht. Als sie vier Jahre ist, verschwindet ihr Vater in den Westen, die Mutter ist zu diesem Zeitpunkt längst weg. Helga bleibt bei der Oma. „Meine Großmutter hat sich viel Mühe gegeben, mich aufzuziehen“, sagt sie.
Die anderen Kinder aus dem Dorf haben die kleine Helga öfter ein bisschen geärgert – wegen ihres ostpreußischen Dialekts und weil sie ohne Mutter und Vater lebt. Nie richtig böse. „Aber ich konnte mich gut wehren“, sagt sie schmunzelnd. „Wir waren als Kinder sowieso nicht zimperlich.“
Die Schule machte ihr Spaß. Noch heute habe sie Freude am Lernen. Es sei ihr stets leicht gefallen. Aber gern betont sie, dass alles Wissen wenig wert sei, wenn es nicht in der Praxis angewendet werde. Sie beobachtete das später im Arbeitsleben hin und wieder bei Pädagogen, die trotz Einser-Abschluss mit den Schülern nicht klarkamen.
Nach der zehnten Klasse lernte Helga Ihlenfeld in der Landwirtschaft, fühlte sich auf dem Acker aber schnell unterfordert. Das lag an der Arbeit – und an ihren Kolleginnen. „Nachdem ich gemerkt hatte, was mich in der Zukunft bei der Arbeit in der LPG erwarten würde, wollte ich mehr in meinem Leben erreichen“, sagt sie.
Nach der Ausbildung zum Agrotechniker ging sie zum Ingenieurpädagogik-Studium nach Schwerin. „Dort haben sie erstmal einen Menschen aus mir gemacht“, blickt sie gern zurück. „In der Woche habe ich im Internat gewohnt, Zimmer 122, das weiß ich noch heute. Zusammen mit vier anderen Leuten. Wir sind ausgegangen, haben ab und zu ein Bier getrunken. Jungs gab‘s da auch. Die Fleißigsten waren wir nicht immer.“ Nach dem Studium, Abschluss mit Note Drei, bildete sie an einer LPG Lehrlinge aus, gab später Unterricht in Praktischer Arbeit (PA) für Schüler Polytechnischer Oberschulen (POS). Da war sie bereits Mutter einer Tochter und verheiratet.
Dann kam die Wende, der PA-Unterricht hatte sich erledigt.
Was tun? Erstmal zwei Jahre Umschulung zur Haus- und Familienpflegerin inklusive Praktikum bei einem ambulanten Pflegedienst. Die Prüfung zur staatlich anerkannten Altenpflegerin schloss sie gleich an.
Dann ging‘s rein in den Job. „Ich hatte erst ein bisschen Angst vor den Anforderungen der pflegerischen Arbeit. Aber gleich zu Beginn wusste ich, wie ich mit den alten Menschen umgehen muss. Ich konnte gut mit den Alten“, sagt sie. Sie blieb trotzdem nicht in der Pflege.
Nach einigem Hin und Her landete sie bei einem Rostocker Bildungsträger. Sie hatte sich einfach mal beworben – und wurde für sie überraschend eingestellt: als Dozentin für Sozial- und Pflegerische Berufe. Von da an unterrichtete sie Erwachsene, teils weit über 30 Jahre alt. „Ich kam mit den Umschülern klar. Ich wusste, wann ich ein bisschen locker lassen musste, weil sie nicht mehr konnten. Ich kannte ja auch die andere Seite vom Lehrertisch. Überhaupt hat die lange Leine bei mir immer besser funktioniert als die kurze“, blickt sie zurück.
Die Klassen bestanden teils aus Sozialhilfeempfängern und Obdachlosen. Diesen Menschen eine Perspektive zu eröffnen, machte ihr besonders viel Spaß.
Die Maßnahme endete nach zwei Jahren. Aber auch an ihren späteren Arbeitsstellen hatte sie mit Jugendlichen und Erwachsenen zu tun, die lernen mussten, sich im Leben zurechtzufinden. Sie arbeitete als Stützlehrerin, Bildungsbegleiterin, Berufsvorbereiterin, Integrationsbegleiterin. „Der Job hieß jedes Mal anders, die Tätigkeit war aber im Prinzip immer gleich“, sagt sie.
In den zwei Jahrzehnten habe sie gelernt, „wie Menschen ticken“. Das kommt ihr bei „We 4 You“ zu Gute. Besser gesagt: den Leuten, die sich an den Verein wenden.
In Einzelcoachings bringt sie den Hilfesuchenden bei, ihren Alltag zu strukturieren. Sie stellt Kontakt zu Schuldner- und Suchtberatungsstellen her, spricht mit Vermietern und Stromversorgern, vermittelt Flüchtlingen Kita-Plätze und Deutschkurse. Oft schreibt sie zusammen mit ihren Klienten Bewerbungen, knipst sogar das Foto für den Lebenslauf.
„Es macht mir Spaß zu sehen, wie die Leute sich freuen. Zum Beispiel, wenn ich jemandem geholfen habe, einen Job, ein Praktikum oder eine Wohnung zu finden“, sagt Helga Ihlenfeld. „Mit Menschen umgehen, das liegt mir einfach, das konnte ich schon immer gut.“ Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Ich glaube, ich kann auch gar nichts anderes.“
S. Krieg