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Skat im Adlerhorst
„Hat er dich erwischt?” Der Mann am Sicherungsseil schaut besorgt in die Höhe. Blut tropft aus der Kiefernkrone, in der irgendwo Gerald Blödorn versucht, ein ca. acht Wochen altes Seeadlerjunges zu beringen. 20 Meter höher ist die Situation angespannt. Der Hobbyornithologe, erfahren im Klettern und geübt im Kennzeichnen der scheuen Tiere, bewegt sich seit Minuten nicht mehr. Die Zeit vergeht quälend langsam. Er spürt die messerscharfe Kralle des Vogels, die seine Handfläche durchstochen hat. Seine Schutzhandschuhe - wirkungslos. Das Blut verklebt mittlerweile den ganzen Arm. Da kommt die Chance! Der Adler lockert seinen Griff und Gerald Blödorn kann sich vom Horst entfernen. Mit Routine seilt er sich ab. Sein Partner empfängt ihn erleichtert auf der Erde.
Das Erlebnis in der Schwinzer Heide hat auch nach 15 Jahren nichts an Spannung verloren, spiegelt aber keineswegs den Ornithologen-Alltag wider. Die Begegnung mit den Tieren, weiß der gelernte Instandhaltungsmechaniker zu berichten, läuft in der Regel weitaus undramatischer ab. Aber genau das fasziniert Gerald Blödorn: die unzähligen kleinen Momente in der Natur. Das Wissen, mit seinem Tun Kreaturen zu helfen, die sonst nur wenig Beachtung finden.
Im Hause Blödorn gab es schon immer Gössel, Ziegen und Bullen. Katzen und Hunde sowieso. Aber es war ein Lehrer, der Gerald Blödorns Interesse an Fauna und Flora weckte und förderte. Dieser leitete die Arbeitsgemeinschaften„Junge Ornithologen” und „Junge Naturschützer” und begeisterte die Kinder. „Wir waren - im positiven Sinn - infiziert”, erinnert sich der 48-Jährige.
Die Schüler bauten in Rosenhagen bei Schwerin Verstecke in 25 Metern Höhe und schauten in der Fischreiher-Kolonie den Vögeln, die in den Wipfeln der Buchen und Eichen ihre Nester hatten, in die ‚gute Stube‘. An den Nachmittagen bauten sie Vogelkästen und fertigten sogar ein Modell der Umgebung an, in dem kleine Lämpchen die Nistplätze von Habicht, Mäusebussard oder dem Roten Milan markierten. Das, meint Blödorn, gibt es in dieser Form heute nicht mehr. Er kann das einschätzen, gibt er doch, angefordert von den Schulen, für viele Kinder Anschauungsunterricht in Sachen Natur.
Doch zurück. Nach Schul- und Lehrzeit kam der Einberufungsbefehl zum Wehrdienst. Schon einige Zeit war das Hobby eingeschlafen. Da eröffnete „Meister Zufall” dem jungen Mann eine Möglichkeit, von der er nicht zu träumen gewagt hätte. Den Wachdienst an einem bewaldeten Objekt konnte Gerald Blödorn nicht nur auf einem Turm verbringen, es stand ihm neben der obligatorischen Kalaschnikow auch ein Fernglas zur Verfügung. „Da habe ich natürlich weniger Menschen, als die Tiere der Gegend beobachtet”, schmunzelt Blödorn. Zudem gab es auf dem Kasernengelände „Goldstaub” zu kaufen: ein Buch zur Vogelartenbestimmung! Das Interesse war wieder geweckt. Nach seiner Entlassung 1984 war er dann ornithologischer Einzelkämpfer, streifte durchs Schweriner Umland. So wie die Jäger mit der Büchse, zog er mit dem Fotoapparat durchs Revier und „kroch”, wie er sagt, wieder auf Bäume. In dieser Zeit konnte er den seltenen Bienenfresser, der im Schwarm in Erdhöhlen lebt, beobachten - eine kleine Sensation.
Der Eisvogel, den die meisten Menschen nur aus Büchern kennen, war ihm ein Vertrauter. Sein Engagement sprach sich in Fachkreisen herum. er wurde angesprochen und bald war er aktives Mitglied der Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft Mecklenburg- Vorpommern (OAMV). Nun besitzt Gerald Blödorn sozusagen die Lizenz zum Beringen der Vögel, darf in deren Nester schauen. Ein Privileg, das er umgehend rechtfertigte. Seit vielen Jahren wird er dazugeholt, wenn die größten europäischen Greifvögel - die Seeadler - gezählt und gekennzeichnet werden.
Fernsehteams begleiten ihn bei seinen Klettertouren und der bescheidene und zurückhaltende Mann ist in Natursendungen von arte oder Beiträgen des N3-Nordmagazins auf dem Bildschirm zu sehen. Gern gibt er sein Wissen weiter. Ob auf Ausstellungen, wie zum Beispiel in den Stadtwerken, auf der BUGA oder in Schulen, jedes Mal versetzen seine Exponate - präparierte Tiere, Eier, Nester oder Fotografien mit Seltenheitswert - die Betrachter in Staunen. Die Kinder sind ihm jedoch am wichtigsten. Stolz meint er: „In der Klassenstufe 4, wenn in Heimatkunde Fuchs, Hase und Reh behandelt werden, bin ich regelmäßig in der Schule bei den Kids.” Die Mädchen und Jungen haben solchen Unterricht noch nie erlebt und hängen ihm an den Lippen. Natürlich hat der Lehrer ihnen gesagt, dass sie die Natur lieben und schützen müssen. Aber Gerald Blödorn stellt den Kontakt her. Da gibt es tolle Geschichten. Wer von den Schülern weiß schon, dass das größte Ei eines heimischen Vogels das des Höckerschwans ist (dann kommt das Ei der Gans, erst dann das des riesigen Seeadlers)? Wer lacht und wundert sich nicht, wenn er erfährt, dass das Ei des Waldkauzes einem Tischtennisball zum Verwechseln ähnlich ist? Keiner der Zehn- und Elfjährigen hätte gedacht, dass sich in einem Seeadlerhorst drei bis vier Männer zum Skatspielen treffen könnten oder dass der ausgewachsene Adler auch gern einmal ein Rehkitz oder einen Fuchs als Mittagsmahlzeit wählt. Naturschützer Blödorn bittet die Kinder auch, beim Angeln mit Vater oder Opa auf dem Wasser, mit dem Boot nicht so dicht an den Schilfgürtel zu kommen. Blesshühner, Haubentaucher oder Gänse kommen dann nicht mehr zu ihren Gelegen. Wenn die Eier zwei Stunden ohne Wärme sind, wird es keinen Nachwuchs geben.
Gerald Blödorns Passion ist nicht ungefährlich. 2003 kletterte er - ein verlassenes Beutelmeisen-Nest in fünf Metern Höhe vor Augen - eine Glasweide hinauf und bekam Sekunden später auf dem Rücken liegend bestätigt, was der Unterschied zwischen Glas- und normaler Weide ist. Seitdem tastet Gerald Blödorn instinktiv nach seinem Sicherungsgurt, wenn er die Wohnung in Richtung Wald verlässt.