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Wie aus dem Märchen
Wer kennt das nicht: Da steht ein schönes Haus in der Straße, hundertmal und mehr ist man schon vorbeigegangen. Aber was verbirgt sich hinter der Fassade? Welche Geschichten stecken hinter den Mauern, wer geht hier ein und aus? Denn schließlich sind Geschichten von Häusern immer auch Geschichten von Menschen. In dieser Serie wollen wir gemeinsam mit Ihnen hinter Fassaden blicken. Heute in einem Gebäude, das jeder Schweriner kennt und das trotzdem noch Geheimnisse birgt: im Schloss.
Viele Besucher, die zum ersten Mal das Schweriner Schloss sehen, machen große Augen. Sie schauen, staunen, zücken die Fotoapparate. Dieses Staunen kennt Anette Schwarz von sich selbst. Dabei sieht sie das Schloss jeden Tag, kennt jeden Gang und Winkel. Die Mitarbeiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Landtags führt Besucher vom Keller bis zur Kuppel und auf Wegen, die allein mit dem Museumsticket nicht beschritten werden dürfen.
Unzählige Gänge und Treppen, 630 Räume: Im Schloss gibt es viel zu entdecken. So viel, dass Besucher gar nicht überall vorbeischauen können. Meist beginnt Anette Schwarz die Führungen auf dem Innenhof. Er entspricht in seiner Struktur noch heute der einstigen Burg, die an dieser Stelle stand: „Das lässt sich an den Gründungspfählen ablesen“, erklärt die Landtagsmitarbeiterin. Vermutlich schon im 5./6. Jahrhundert wählten Slawen diesen Ort für eine befestigte Siedlung. „Zuarin“, das „Tiergehege“, nannte sich der Ort, als im 12. Jahrhundert deutsche Ritter unter Führung Heinrichs des Löwen auf ihrem Wendenkreuzzug in die slawischen Gebiete eindrangen. Daraus leitet sich der Name Schwerin ab. „Er hat also nichts damit zu tun, dass man hier wegen der vielen Seen nur ,schwer rin‘ kam – wie neulich einmal ein Besucher vermutete“, sagt Anette Schwarz.
Auch mit anderen Vorstellungen muss sie aufräumen: Zum Beispiel mit der, dass das Schloss so viele Türme hat wie es Tage im Jahr gibt. „Nein, 365 sind es nicht. Sondern 15 Türme, 100 Spitzen und 25 Schornsteine“, erklärt die Schlossführerin. Die vielen Spitzen, die dem Gebäude das Aussehen eines Märchenschlosses geben, entstanden beim großen Schlossumbau im 19. Jahrhundert. Der in die Jahre gekommene Regierungssitz der Mecklenburger Herzöge, den die Herrscher zwischenzeitlich sogar zugunsten eines Neubaus in Ludwigslust aufgegeben hatten, wurde zwischen 1843 und 1857 dem Zeitgeist entsprechend saniert. Hofbaurat Demmler, der anfangs mit seinen Entwürfen bei Großherzog Friedrich Franz II. nicht punkten konnte, begab sich auf eine Dienstreise nach England und Frankreich und kehrte inspiriert vom Loireschloss Chambord zurück. Auch andere namhafte Architekten nahmen an der „Ausschreibung“ zum Schlossumbau teil, darunter Gottfried Semper, dessen Entwürfe in den Hauptturm, den so genannten Semperturm, einflossen. „Semper wollte aber die alten, vorhandenen Bauteile nicht integrieren. Außerdem waren seine Entwürfe zu schwer für den fragilen Untergrund der Schlossinsel“, erklärt Anette Schwarz. Der 70 Meter hohe Hauptturm zum Beispiel wiegt 3000 Tonnen.
Der „Wackelpudding-Untergrund“ der Schlossinsel ist auch ein Grund, weshalb bei der Ausstattung leichte Materialien eingesetzt wurden. Natürlich spielte bei mancher optischen Täuschung auch der schma-le Geldbeutel des Großherzogs eine Rolle. Viele prächtige Marmorsäulen sind nur Imitate, die ihr Aussehen mit Hilfe der Stuccolustro-Technik erhielten.
Von den 630 Räumen des Schlosses nutzt 420 der Landtag. 30 Räume gehören zum Museum, dazu kommen die Gastronomie und die Schlosskirche, deren Sanierung 2013 abgeschlossen sein soll. Wenn Anette Schwarz mit Besuchern durchs Schloss streift, führt sie sie auch in den Parlamentssaal, in dem seit 1990 der Landtag Mecklenburg-Vorpommerns tagt. Sie geht mit ihnen auf dem Dach zwischen Türmchen und Kuppeln spazieren, zeigt ihnen die „königliche Halle“, in der das Niklot-Reiterstandbild steht und den Weg zur Kuppel, über der Erzengel Michael thront. „Der Erzengel über dem Obotritenfürsten symbolisiert den Sieg des Christentums über die Heiden“, erklärt die geschichtsinteressierte Mitarbeiterin. Warum trotzdem Niklot die Fassade dominiert, wird in der Ahnengalerie neben dem Thronsaal schnell klar: Der letzte Obotritenfürst, der den Kampf gegen Heinrich den Löwen mit dem Leben bezahlte, ist Stammvater des mecklenburgischen Fürstengeschlechts. Sein Sohn Pribislaw ließ sich nach der Niederlage taufen und begründete eine Dynastie, die zu den ältesten in Europa gehört.
Schlossführungen können über die Landtagsverwaltung (Frau Schröder) angemeldet werden.