19.03.2010

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Santiago, Bagdad, Dambeck

Die Töpferin Christiane Gregorowius und das verschobene Paradies
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Irgendwer hat den Meisterbrief von der Wand genommen. War wohl grad im Weg. Liegt schon irgendwo. Nicht, dass er Christiane Gregorowius nichts bedeuten würde. Aber wirklich wichtig ist etwas anderes. Wichtig ist das Paradies.

Das lag in Zerbst. Im kleinen sachsen- anhaltinischen Städtchen wird Christiane geboren und wächst die ersten drei Lebensjahre bei ihrer Großmutter auf. Die Eltern studieren in Berlin, wissen ihr Mädchen aber in besten Händen.
Das Paradies hat einen Garten, der an einer Straße endet. Zweimal am Tag ächzt hier der kleine Zug entlang, der von den Tongruben kommt und die hiesige Ziegelei mit Rohstoff beliefert.
Die Kinder der Stadt können der Verlockung nicht widerstehen, schaufeln mit fl inken Händen Tonklumpen aus den kleinen Loren und tragen ihren Schatz nach Hause, um ihn weiter zu verarbeiten. Der Lokführer lässt den Nachwuchs gewähren, drückt beide Augen zu. Nachdem der Zug sich am Paradies vorüber gequält hat, ist auch die kleine Christiane - nunmehr fünf, sechs Jahre alt - bestens versorgt. Aus dem frischen Ton formt sie Fantasiefi guren und erhitzt diese an einem Stock über offenem Feuer. Doch jedes Mal explodieren die Kunstwerke. Warum nur? Die DDR steigt in den 1960er Jahren immer stärker in den internationalen Handel ein. Nachdem Christianes Vater sein Außenhandelsstudium abgeschlossen hat, heißt es für die mittlerweile fünfköpfi ge Familie Koffer packen. Nach einer kurzen Zwischenstation in Kolumbien - unvergessen, wie dort in Christianes heiler Kinderwelt die Erde bebt - wird der Vater nach Chile versetzt. In Santiago besucht das Mädchen die 1. Klasse der „Schule der Handelsvertretung der Deutschen Demokratischen Republik”. Klassenstärke: ein Kind. Die Einzelbehandlung tut ihr gut. Im Unterricht wird nur dann weitergegangen, wenn sie den bisherigen Stoff verinnerlicht hat.
Die Handelspolitik der DDR bestimmt fortan den Ort, an dem Christiane zur Schule geht. Mal sind es ein paar Monate in der Heimat, dann ist es wieder ein fernes Land. Vom Ende der 2. bis zum Abschluss der 6. Klasse geht sie in eine DDR-Schule in Bagdad. Hier sind die Klassenstärken größer. Die Armut auf den Straßen hat sie bis heute nicht vergessen. Die 10. Klasse absolviert Christiane in Berlin- Lichtenberg. Neubaugebiet. Nicht ihre Welt.
Die Familie zieht in den Norden. Der Vater ist in Wismar und Rostock eingesetzt. Sie schlagen ihr Domizil in Hundorf bei Schwerin auf.
Christiane muss sich für einen Beruf entscheiden. Sie weiß seit ihrer frühen Kindheit: Ich will töpfern! Die Eltern dagegen wollen das Abitur sehen. Mit dem höheren Abschluss in der Tasche verlässt die junge Frau zwei Jahre später Hundorf in Richtung Paradies.
Und das ist größer geworden. Hier wohnt nicht nur die geliebte Oma, steht das Haus aus Kindertagen. Hier gibt es einen Ausbildungsbetrieb! 1979 beginnt Christiane die Töpferlehre im „VEB Korksteinwerk Coswig/Anhalt”. Drei Jahre später, die Eltern sind gerade nach Algerien abberufen worden und das Haus in Hundorf steht größtenteils leer, macht sich Christiane dort selbstständig.
Das Leben nimmt Fahrt auf. Im Mai 1983 wird Tina geboren. Der Juli sieht die junge Mutter in Halle bei der Meisterprüfung. Ihren Mann, den sie während ihrer Abiturzeit kennen lernte, heiratet sie im September. Sohn Steffen folgt nur zwei Jahre später. Und irgendwann war das Elternhaus zu klein. Mutter, Vater, Kinder, Lehrlinge und Werkstatt sind einfach nicht mehr unter einen Hut zu bringen. In Dambeck werden sie 1987 fündig. Sie entscheiden sich für das ruhig gelegene Gehöft auch, weil eine Trafostation in der Nähe ist. Die Öfen der Töpferei haben einen enormen Stromverbrauch, extra Leitungen müssen gezogen werden. Viel Arbeit, viel Stress. Aber es ist das erste eigene Haus!
Christiane kann loslegen. Arbeit gibt es genug. Vor der Werkstatt stehen die Leute Schlange. Auch während der Wende ist der Umsatz noch gut. Mit dem Tag der Währungsunion bricht er in ungeahnte Tiefen ein. Harte Wochen. Die vier Azubis will sie nicht auf die Straße setzen. Die Erlöse reichen nicht für das Lehrlingsgeld. Sie bezahlt es trotzdem.
Was tun? Das Lager ist voll, doch nur wenige interessieren sich noch für Töpferware. Christiane ertappt sich beim Müßiggang. Sie löst Kreuzworträtsel in der warmen Stube. Ist es das gewesen?
Ein Töpfer aus den alten Bundesländern drängt die Frau in einem kollegialen Gespräch, nicht zu resignieren. Und er treibt sie an: Sie solle jetzt arbeiten! Im Sommer werde sie keine Zeit mehr dazu haben, denn dann brummt der Verkauf. Er sollte Recht behalten.
Die Lage stabilisiert sich. Der Konsum „schubst” sich wieder zurecht. Die Leute wollen wieder etwas Individuelles. Dem will Christiane nur allzu gern gerecht werden. So organisiert sie mit Gleichgesinnten 1995 zum ersten Mal Wismars „Kunstmarkt im Rathaus”, der bis heute an jedem 3. Advent Käufer aus der ganzen Region anlockt.
Mittlerweile betreibt sie mit Handwerkskollegen aus anderen Branchen einen Laden in der Hansestadt und mit einer Töpferin aus Cramonshagen die „Tongrube” in der Schweriner Buschstraße. Ihrer Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.

Die Welt ist groß! Christiane Gregorowius weiß das. Seit sie denken kann, war sie in der Welt unterwegs. Aber es gibt für sie nur ein Paradies. Und das hat sie für sich nach Mecklenburg verschoben.